Die Gemeine Flussmuschel Unio crassus PHILIPSSON 1788
Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts galt Unio crassus PHILIPSSON 1788 als die häufigste heimische Bach- und Flussmuschelart (andere deutsche Namen sind "Kleine Flussmuschel oder Bachmuschel"). Inzwischen gehört sie international zu den am intensivsten geschützten Muschelarten, denn ihre Bestände sind in den meisten Gebieten Mitteleuropas dramatisch zurückgegangen.
Wahrscheinlich ist die Art in etwa 90 % ihres früheren Verbreitungsgebietes ausgestorben und auch die noch vorhandenen Populationen zeigen viel niedrigere Bestandsdichten als früher. Besonders alarmierend ist, dass viele dieser verbliebenen Vorkommen überaltert sind und kaum noch Jungmuscheln aufweisen.
Daher hat die Europäische Union die Gemeine Flussmuschel zu den besonders zu schützenden Arten erklärt (Flora-Fauna-Habitatrichtlinie nach Anhang II und IV), für die Schutzgebiete ausgewiesen und Artenschutzprojekte umgesetzt werden müssen.
|
Kennzeichen
Das Gehäuse der Gemeinen Flussmuschel ist meist 6-7 cm (sehr selten bis über 10 cm) lang. Es ist lang-oval, teilweise am Unterrand eingebogen, so dass eine Bohnen- oder Nierenform entsteht.
Die Tiere sind in Norddeutschland und Nordeuropa meist bräunlich oder schwarz, im Rhein, in der Oder, in Ostdeutschland und in Bächen Süddeutschlands sowie in Gewässern außerhalb Deutschlands teilweise auch grünlich.
Oft sind die Schalen durch das Leben im Bach mit Kalk oder schwarzem Eisen-Mangan-Überzug verkrustet.
Bei den meisten erwachsenen Tieren ist der Wirbelbereich (oben nahe der Verbindung der beiden Klappen) durch Umwelteinflüsse stark korrodiert (zerfressen).
Die organische Schalenhaut (Periostrakum) ist dort aufgelöst und das Kalkgehäuse teilweise zerstört.
Deshalb ist die Struktur des Wirbels bei den erwachsenen Muscheln meist nicht mehr erkennbar, bei Jungmuscheln ist der Wirbel mit charakteristischen runzeligen Falten versehen.
Der Weichkörper der Muschel ist hell, am Hinterende befindet sich die große und mit einem Papillenrand versehene Einströmöffnung sowie darüber die mit glattem Rand versehene Ausströmöffnung.
Diese Öffnungen sind mehr oder weniger grau gefärbt. In der Atemhöhle befinden sich weißlich-gelbliche, manchmal auch orangefarbene Kiemen. Das Tier kann an der Unterseite zwischen den Klappen seinen Fuß zur Fortbewegung herausstrecken
|
Verbreitung
Die Gemeine Flussmuschel lebt in fast ganz Europa, im Schwarzmeergebiet und in Mesopotamien. Sie fehlt auf den Britischen Inseln (dort nur fossil), in Italien und auf dem größten Teil der Iberischen Halbinsel.
In Mitteleuropa unterscheidet man nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft drei geographische Unterarten deren Verbreitung im wesentlichen den großen Fluss-Systemen entspricht: die Rhein-Unterart (Unio crassus riparius), die Donau-Unterart (Unio crassus cytherea) und diejenige des nordeuropäischen Vereisungsgebietes (Unio crassus crassus).
Wieweit sich diese Formen durchgängig unterscheiden lassen oder ob es sogar noch weitere kleinräumige Sonderentwicklungen von Populationen gibt, ist noch nicht ausreichend erforscht.
Es wurden für eine Reihe von lokalen Sonderformen eigene Namen eingeführt. So wurde zum Beispiel die große und sehr dickschale Form Unio crassus maximus seinerzeit aus Dänemark beschrieben und kommt ebenfalls in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg vor.
Sie scheint sich auch in der Fortpflanzungsbiologie von U. crassus crassus zu unterscheiden, was ein weiteres Indiz für eine Abgrenzung als eigene Unterart wäre. In der Verbreitungskarte sind nur Lebendbeobachtungen nach 1980 dargestellt. Ursprünglich war die Art in Deutschland erheblich weiter verbreitet.
Ernährung und Verhalten
Die Gemeine Flussmuschel ernährt sich von Plankton und feinsten organischen Schwebeteilchen (Detritus), die sie aus dem Wasser filtert.
Die Muscheln sind mit dem vorderen Teil des Gehäuses in das Sediment des Baches oder Flusses eingegraben und die Ein- und Ausströmöffnungen am hinteren Teil des Gehäuses ragen in das Wasser.
Mit Hilfe ihres Fußes kriechen die Tiere im Bachbett herum. Sie richten sich dabei in der Mitte des Bachs nach der Strömung (dem sogenannten Stromstrich) aus, an den Rändern oder in Buchten sitzen die Tiere meist quer zur Strömung.
|
Fortpflanzung und Wachstum
Die Gemeine Flussmuschel ist eine langlebige Art. Sie kann in Mitteleuropa teilweise über 30 Jahre alt werden, in Nordeuropa sogar bis 90 Jahre.
Die Tiere werden mit drei bis vier Jahren und ca. 2-4 cm Gehäuselänge fortpflanzungsfähig.
Das Alter der Tiere kann an den jährlichen Zuwachsringen des Gehäuses abgelesen werden. Allerdings sind nur in den ersten Jahrzehnten noch neue Ringe auf dem Schnitt durch die Klappen des Gehäuses erkennbar.
Die Gemeine Flussmuschel ist getrenntgeschlechtig, Zwitter wie sie bei der Flussperlmuschel gelegentlich auftreten, sind noch nicht beobachtet worden. Die Weibchen strudeln zur Fortpflanzungszeit die Spermien der Männchen mit dem Atemwasser ein und die Eier werden befruchtet.
Die reifen Eier der weiblichen Muscheln werden zwischen April und Juli - selten auch später - aus den Gonaden (Eierstöcken) des Fußes in die Marsupien (Kiemen-Bruträume) abgegeben.
Es entwickeln sich kleine zweiklappige Muschellarven, die Glochidien, die in "Paketen" von der weiblichen Muschel ins Wasser ausgestoßen werden. In einem untersuchten Fall enthielten die nur wenige Kubikmillimeter kleinen Pakete jeweils etwa 1.000 Glochidien und während einer Fortpflanzungsperiode wurden für Unio crassus zwischen 1.000 und 56.000 Glochidien gezählt.
Die Glochidien haben einen Durchmesser von etwa 0,2 mm, einen kurzen Haftfaden und an jeder Schalenklappe kleine Haken. Sie müssen sich innerhalb von 3-6 Tagen an einen geeigneten Wirtsfisch anheften und können nicht selbständig schwimmen, sondern werden von der Strömung bewegt. Während andere Teich- oder Flussmuschellarven sich auch außen am Fisch entwickeln, sitzen die Glochidien von Unio crassus hauptsächlich im Kiemenbereich der Fische, dies ist vermutlich auch dadurch bedingt, dass die Fische nach Glochidienpaketen schnappen und dabei immer auch einige der Glochidien mit dem Atemwasser an die Kiemen geraten. Die Wirtsfische sind von Gebiet zu Gebiet verschieden, in Frage kommen zum Beispiel Elritze, Groppe (Mühlkoppe), Dreistachliger Stichling, Döbel, Hasel und einige andere Fischarten.
Die Muschellarven durchleben am Wirtsfisch eine parasitäre Phase und fallen nach 20-30 Tagen ab. Anschließend wandeln sie sich zu Jungmuscheln um; diese wachsen relativ langsam und sind nach etwa 3 Monaten 1,6 mm groß.
Die Jungmuscheln wandern für etwa 1-3 Jahre in die Gewässersohle der Bäche und Flüsse. Mit einer Länge von gut 1 cm kommen sie wieder an die Oberfläche und richten sich so wie die erwachsenen Tiere aus, mit dem Vorderende des Gehäuses eingegraben und das Hinterende (mit den Atemöffnungen) in das fließende Wasser ragend.
Feinde und Gefährdung
Als nennenswerter, bekannter Feind der Gemeinen Flussmuschel war früher nur der Fischotter bekannt, heute kommen der Bisam, der Waschbär und der Mink als eingeschleppte Säugetierarten hinzu.
Für die mitteleuropaweiten gravierenden Bestandseinbrüche von Unio crassus ist der Mensch verantwortlich. Die Kanalisierung der Fließgewässer, zu hohe Nährstoffeinträge, unnatürliche Schwebstofffrachten (das Lückensystem im Sohlsubstrat wird verstopft), Mangel an Wirtsfischen, sowie die fehlende Durchgängigkeit der Fließgewässer gefährden das Überleben der Gemeinen Flussmuschel. Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass zu hohe Nitratgehalte und mangelnder Sauerstoff im Sohlsubstrat zum Sterben der Jungmuscheln führen.
Hinzu kommt, dass durch Besatzmaßnahmen in den Gewässern ortsfremde und oft für die ursprünglichen Muschelpopulationen ungeeignete Wirtsfische eingesetzt werden. Noch vielfach verkannte Probleme bringen auch die durch eingesetzte fremde Fische eingeschleppten Muschellarven von Unio crassus aus anderen Regionen und Ländern.
Die genetischen Eigenschaften der örtlich eng umgrenzten Populationen verschiedener Gewässersysteme gehen vermutlich durch die Vermischung mit fremden und meist allgemeiner verbreiteten Formen aus den Zuchtgewässern der Besatzfische verloren.
Durch natürliche Isolation herausgebildete Populationsunterschiede haben eine weit größere Bedeutung für die biologische Vielfalt („Biodiversität“) als bisher angenommen. Diese Zusammenhänge sind jedoch bei der Gemeinen Flussmuschel noch nicht ausreichend erforscht.
Artenschutzmaßnahmen
Die Erfahrungen und das Wissen aus verschiedenen Artenschutzprojekten können helfen eine vom Aussterben bedrohte Art in Deutschland zu retten, wenn sich die Verantwortlichen vor Ort aus dem ehrenamtlichen- und beruflichen Naturschutz intensiv um den Erhalt dieser Art bemühen.
|